»Spätestens seit der ersten Initiativen und Einlassungen von US-Präsident Donald Trump wissen wir, dass wir es mit einer Zeitenwende in der Zeitenwende zu tun haben. Das deutsche Geschäftsmodell steht unter Druck.«
Peer Steinbrück
»Nach der Agenda 2010 hat es keine vergleichbare Anstrengung mehr gegeben, das Land auf Die Höhe der Zeit zu bringen.«
Deutschland steht mitten in einer Zeitenwende. Die globalen Machtverhältnisse verändern sich und Gewissheiten, die jahrzehntelang für unumstößlich gehalten wurden, sind plötzlich verschwunden. Ein Gespräch mit dem früheren Bundesfinanzminister Peer Steinbrück über die Herausforderungen, die die neu gewählte Regierung jetzt bewältigen muss.
Herr Steinbrück, bei der Bundestagswahl im Februar hat nur noch jeder Sechste die SPD gewählt. Kann man die SPD unter diesen Umständen überhaupt noch als Volkspartei bezeichnen?
Das Wahlergebnis war ein Desaster mit Ansage für die SPD. Sie steht jetzt vor der fundamentalen Aufgabe, die Gründe für dieses historisch schlechte Wahlergebnis systematisch und tiefschürfend zu ergründen. Dem hat sie sich nach den Niederlagen 2009, 2013 und 2017 weitgehend entzogen und der Erfolg 2021 hat sie darüber hinweg sehen lassen, warum sie programmatisch, strukturell und organisatorisch nicht auf der Höhe der Zeit ist. Mehr ist dem nicht hinzuzufügen.
Dann lassen Sie uns auf die Regierungsbildung schauen. Welche Herausforderungen werden CDU und SPD zu meistern haben?
Der Begriff der Zeitenwende trifft die Situation, in der wir uns momentan befinden, sehr gut. Und spätestens seit der ersten Initiativen und Einlassungen von US-Präsident Donald Trump wissen wir, dass wir es auch noch mit einer Zeitenwende in der Zeitenwende zu tun haben. Das deutsche Geschäftsmodell steht unter Druck. Dieses Modell bestand erstens aus einer verteidigungspolitischen Abschirmung durch die USA, zweitens aus billiger Energie aus Russland und drittens als extrem exportorientiertes Land aus dem Zugang zu den globalen Märkten, insbesondere China. Dies gilt nicht mehr. Vor diesem Hintergrund wird sich die nächste Regierung um die zukünftige wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes als Grundlage für unseren Wohlstand und unser hohes Sozialniveau kümmern müssen, bis hin zu der Frage, welche Rolle Deutschland in und mit Europa angesichts der massiven Verschiebungen in der weltweiten Machttektonik spielen wollen.
»Was wir brauchen, sind öffentliche und private Investitionen.«
Peer Steinbrück
Haben Sie Vertrauen, dass die neue Regierungskoalition diese Herkulesaufgaben stemmen kann?
Ich bin nicht das Orakel von Hannover. Die neue Regierung wird dringend eine hohe Lösungskompetenz angesichts unabweisbarer Reformdringlichkeiten entwickeln und das schwindende Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit stoppen müssen. Gelingt ihr das nicht, wird die nächste Wahl zu einer Nagelprobe unserer Demokratie werden.
Aber ist dieser notwendige Wandel mit einer Partei, die seit 12 Jahren ununterbrochen mitregiert, und jetzt in ihre vierte Regierungszeit geht, überhaupt möglich? Die SPD würde ja am liebsten alle wirtschaftspolitischen Probleme mit Subventionen lösen.
Subventionspolitik hat die Union genauso betrieben, in dieser Hinsicht kann ich keinen großen Unterschied zwischen den Parteien feststellen. An den Sozialstaat haben alle immer etwas angebaut, die Union zum Beispiel mit der Mütterrente. Was wir brauchen, sind öffentliche und private Investitionen.
Die deutsche Wirtschaft und vor allem die deutsche Industrie befindet sich in einer tiefen Krise, trotzdem ist der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz mit dem Versprechen in den Wahlkampf gezogen, den Mindestlohn auf 15 Euro anzuheben. Erkennt die SPD die Notlage der Wirtschaft einfach nicht?
Einen Mindestlohn gibt es in einer Vielzahl von Ländern. Und die Horrorgemälde über seine Einführung bei uns sind nicht eingetreten. Der Mindestlohn selbst ist in meinen Augen kein Problem, sondern eher eine übergriffige Politik bei seiner Festlegung – statt dies der dafür zuständigen Kommission zu überlassen. Die Steuerbelastung der Unternehmen im internationalen Vergleich, die Bürokratiekosten, rasant steigenden Sozialabgaben, eine unterentwickelte Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, der Verfall der Infrastruktur und der Fachkräftemangel sind die Kernprobleme – doch nicht der Mindestlohn, den ich aus sozialen Gründen für gerechtfertigt halte.
Trotzdem rangiert Deutschland bei den Lohnkosten im europäischen Spitzenfeld …
Ja, aber doch nicht wegen des Mindestlohns! Sondern insbesondere wegen der hohen Lohnzusatzkosten. Im Übrigen werden Löhne und Gehälter von den Tarifvertragsparteien ausgehandelt.
Die Steuerbelastung hingegen gehört unbestritten zu den Gründen, weshalb der Standort Deutschland vor allem für die Industrie immer unattraktiver wird. Wie kann man diese Entwicklung aufhalten?
Indem man nicht länger redet, sondern etwas tut. Zum Beispiel mit einer Reformagenda. Bei der Unternehmensbesteuerung sollte man sich am Durchschnitt der EU orientieren. Der demographische Druck auf die Sozialversicherungssysteme ist enorm, also muss das Sozialsystem effektiver und effizienter werden. Die Energiekosten ließen sich insbesondere über die Netzentgelte mindestens moderat senken. Das Thema Entbürokratisierung verfolgt mich seit 20 Jahren, ohne dass etwas Wesentliches geschehen ist. Inzwischen kommt die Hälfte des regulatorischen Rahmens aus Brüssel – in den letzten Jahren maßgeblich unter einer EU-Kommissionspräsidentin, die keinen SPD-Hintergrund hat. Deutschland hat dabei unter allen Regierungen dabei immer mitgemacht. Damit das einmal klargestellt ist: All diese Probleme haben sich nicht erst unter der Ampelregierung entwickelt. Sie bestehen seit über zehn Jahren. Nach der Reformagenda 2010 von Gerhard Schröder hat es keine vergleichbare Anstrengung mehr gegeben, unser Land in wirtschaftlichem und technologischem Wandel fit zu halten.
Glauben Sie, dass SPD und CDU mittlerweile verstanden haben, was auf den Spiel steht, und zu tiefgreifenden Reformen bereit sind?
Ich glaube, dass sie dazu gezwungen sein werden. Heißt: Wenn die wahrscheinlichen Koalitionspartner nicht das Bewusstsein haben, dass sie jetzt – und zwar sehr frühzeitig, gleich Beginn der Legislaturperiode – das Notwendige tun müssen, um es mit Helmut Schmidt zu sagen, dann prophezeie ich, dass sie sehr schweren Zeiten entgegen gehen. Und – viel wichtiger – nicht nur sie, sondern unser Land wird dann weiter an Wettbewerbsfähigkeit und Einfluss verlieren. Ich habe aber den Eindruck, dass das verstanden worden ist, also kein Erkenntnisproblem besteht, sondern ein seit Jahren herrschendes Umsetzungsproblem zu lösen ist.
»Bei der Unternehmensbesteuerung sollte man sich am Durchschnitt der EU orientieren.«
Peer Steinbrück
Ein wesentlicher Grund für den Verlust unserer Wettbewerbsfähigkeit ist nicht nur zu viel Bürokratie, sondern auch die extrem hohen Energiepreise. Sie hatten die hohen Energiekosten bereits in Ihrem Wahlkampf 2013 zum Thema gemacht. Warum ist seitdem nichts passiert, wenn das Thema schon damals bekannt war?
Weil wir lange eine sehr idealistische – oder sagen wir: grundsätzliche Debatte – über Energie geführt haben. Angefangen von der Kernenergie über die Zusammensetzung des Energiemixes bis hin zu der Frage, welche Bedeutung die regenerativen Energien haben sollen. Vor allem in der Diskussion um die Wind- und Solarnutzung, die von einer Seite als die Generallösung propagiert wurde und von einer anderen Seite lange zu gering geschätzt wurden, haben wir lange verharrt. Heute haben wir es mit sehr praktischen Fragen zu tun: Welche Kapazitäten an Backup-Kraftwerken sind erforderlich in den Dunkelflauten? Sind unsere Vorstellungen einer großindustriellen Produktion von grünem Wasserstoff in Deutschland realistisch? Wie geht es weiter mit dem Ausbau der notwendigen Netze? Werden wir in Deutschland für energieintensive Grundstoffindustrien je wettbewerbsfähige Energiekosten haben? Bedarf es deshalb eines dauerhaften Subventionsregimes? Mein Eindruck ist, dass diesen und weiteren Fragen gern ausgewichen wird.
Was würden Sie vorschlagen, was die neue Regierung abseits der Neustrukturierung der Energiepolitik tun kann, um die Energiepreise zu senken?
Das Naheliegende ist eine Absenkung der Netzentgelte. Weiteres wird zu prüfen sein. Trotzdem sollten wir uns nichts vormachen: Die Energiepreise werden in Deutschland höher liegen als in anderen Ländern. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, wir hätten irgendwann wieder relativ billige Energie. Deshalb geht es einerseits darum, Kostenausschläge zu vermeiden, um die Unternehmen nicht weiter ins Ausland zu treiben. Aber gleichzeitig müssen wir den Energieeinsatz pro Produktionseinheit senken, also in Technologien zur Erhöhung der Energieeffizienz investieren, sodass der Anteil der Energiekosten an den gesamten Produktionskosten sinkt. Das wäre gleichzeitig ein Beitrag zum Klimaschutz.
Herr Steinbrück, wir danken Ihnen herzlich für dieses Gespräch!